There are some interviews you never forget. I had 3 of them in my life.  The one with Jasper in Berlin for Hugs&Kisses, the one with Imogen  in Jakarta for The Jakarta Post, and this very special one with Katrin,  which took place on a bend in the middle of the night before my show at  the rampenfiber feministisches musik festival in Vienna...

Mit dem Schlachtruf „Art-I-Ficial!” zogen X-Ray-Spex 1978 die  Aufmerksamkeit der Pop(musik)welt auf sich. Nicht zuletzt, weil sie  damit eine Pop-Tradition mitbegründeten, deren Selbstbeschreibungen  spätestens ab hier auf den (eigenen) Antagonismus zu den  Authentizitätsimperativen der „Normalität” abstellten. Damit haben  Pop(musik) und „queer” einen gemeinsamen Kern: den der Dissidenz, der  Subversion. Welche Bezeichnung auch immer verwendet wird, es geht immer  auch darum, gegen die “Normalität” anzuschreiben, zu singen, zu texten  und zu performen. Und Océan Le Roy macht dies in einer Konsequenz, die  beeindruckt und provoziert. Hier hat sich jemand angeschickt, sich  ernsthaft mit allen Kategorisierungen, Rollen(erwartungen), Stereotypen  und Authentizitätsimperativen anzulegen, die uns tagtäglich begegnen.  Und spart sich selbst dabei nicht aus. Die Konsequenz: Alles wird in  Frage gestellt, als Rolle vorgeführt, Grenzen werden gesprengt – sei es  diejenige zwischen Mann* und Frau*, zwischen Nationalitäten, zwischen  Sprachen, zwischen Unternehmertum und Kunst, zwischen Underground und  Mainstream oder zwischen privat und öffentlich. Einhelliges Statement zu  all diesen Unterscheidungen: „I give a shit on it!” Nach der Begegnung  mit Océan blieb bei mir ein Unbehagen zurück, das bis heute nicht  weggedacht werden konnte. Begründet liegt es, so zumindest meine  aktuelle Vermutung (die x-te mittlerweile und ich bekomme es immer noch  nicht ganz zu fassen), darin, dass es bei dem, was Océan sagt und auf  die Bühne bringt, nicht nur bei einer Kritik an „den Anderen” bleibt und  auch die eigene (politische und künstlerische) Position nicht  hundertprozentig klar wird. Hier nimmt jemand die Relativität von  Perspektiven und Wahrheiten extrem ernst. Ernster vielleicht, als es so  manchen lieb ist: “You provoke the very moment you don’t want to apply  to the norms and the codes. So it means I don’t want to be, for example,  like you. Very often it’s interpreted like “I don’t like you!” or like  I’m questioning you why you want to have any answers. So, of course it  is scary sometimes for people.” Und in der Tat, es ist nicht einfach,  sich Océan gefallen zu lassen und sich dieser Schonungslosigkeit  auszusetzen. Doch letztendlich geht es genau darum. Die „Ausweitung der  Bequemlichkeitszone“ ist sowohl ein Anspruch an sich selbst, als auch  an andere. Dabei geht es aber nicht um Angst, sondern darum, sich dem  bisher Ungewagten zu stellen und die eigenen Grenzen des „Möglichen“ zu  erweitern oder gar zu sprengen. Ade Sicherheit, willkommen „Risk,  Stretch or Die“!
Touch the limits
“I’ve  been nearly dying in water as a child and I have a trauma with water.  And I decided to make a transatlantic this year. This was for me like a  die challenge. I wrote my first testament because I thought, I will  never come back. And it was really like crazy. But anyway. I did it. And  what I wanted to say is, when you do that a couple of times in your  life, like, radicalizing, revolutionizing your life or taking a step you  thought you would never do because it was so fucking scary, then “Wow!”  I like to try to touch the limits. And I haven’t found them yet.” Eine  ganz ähnliche Wirkung hatte die Performance auf mich, auch wenn es  zugegebenermaßen nicht direkt mit einer Atlantiküberquerung zu  vergleichen und mein Testament noch immer ungeschrieben ist. Schließlich  hatte ich mich in der Vorbereitung auf das Interview im Internet  umgesehen, auf youtube Mitschnitte von Shows angesehen und dachte, ich  wüsste, was da auf mich zukommt. Falsch gedacht. Im Lauf der Show geht  jeder feste Halt verloren. Und, für mich der spannendste Moment, der  Wunsch ihn wieder zu finden ebenfalls. Es ist unwiderstehlich, da, wo so  deutlich wird, dass nichts deutlich sein muss. Océans Performance ist,  im Gegensatz zu vielen anderen Drag-Performances, nicht auf ein Finden  ausgerichtet, die Figuren nicht auf ei
ne Wandlung, die immer auch ein Ziel hat. Da stehen keine Menschen auf  der Bühne, die ein altes Ich überwinden um ein neues, ein besseres zu  finden. Das Ziel ist trans selbst – das Dazwischen, die Uneindeutigkeit,  das Wandeln und das Wandelbare. Das Bild des „Zwischen den Stühlen“  taucht auf. Und Océan platziert sich ganz bewusst in diesem Dazwischen.  Während die Existenz der Stühle selbst bei der Panel-Diskussion  „queering the stage“ am Vortag noch eher im Hintergrund blieb und die  Möglichkeiten ausgelotet wurden, wie dazwischen performed und gelebt  werden kann, werden diese nun auf der Bühne zum Thema. Da kommt der  leicht schnöselige Anzugtyp „femme like this“ singend die Treppe  herunter stolziert, dreht sich auf die Seite und ... ist eine kokett  zwinkernde Dame im Abendkleid und gefährlich hohen Stilettos. Eine  Nummer später ist diese schon wieder ein Hinterhof-Machismo in  Baggy-Pants, nur um sich sogleich wieder in jemand anderen zu  verwandeln. Innerhalb weniger Minuten ist nicht mehr klar, was oder wen  man_frau auf der Bühne sieht oder zu erwarten hat und wer eigentlich  hinter diesen ganzen Rollen steckt. Aber diese Frage wird schnell  hinfällig: Océan ist all diese Rollen, er ist die Dame im Abendkleid,  sie ist der Macho und all diese Rollen sind Océan. Rollen als Rollen  darzustellen und genau damit Grenzen zu überschreiten ist Programm:  “It’s all about change. You cannot exclude one thing or the other. You  cannot exclude butches and then femmes, or whatever you take for  example. It depends on what you put the lights on. My job as a performer  is to go further to other perspectives. That’s why I go on stage!  Because I want to propose another perspective to people. That they  didn’t have before maybe. And of course I come with my light on specific  focus and they have their lights on other focuses or maybe the same one  but it’s not the same perspective anyway. But it’s interesting to meet  there. Otherwise this whole live would be so boring. But I don’t want to  teach, I don’t want to educate, I don’t want to dictate, I don’t want  to say it is the truth. It is one perspective. It’s an invitation. It’s  an invitation to look in a perspective in respect and in reflection.”  Die Existenz eines unreflektierten, unhintergehbaren Kerns eines  Individuums ist es auch, die gänzlich auf der Bühne fehlt. Gerade im  Aufzeigen dessen, dass es, auch und gerade in der (queeren) Kunst,  keinen privilegierten Ort mehr gibt, der eine für alle Perspektiven  bindende Deutung der Welt bereithalten würde, sprengt Océan auch die  (vielleicht) letzten wichtigen Grenzen: die der Authentizität und der  Wahrheit. Nicht nur die Uneindeutigkeit des eigenen Seins, sondern auch  die Uneindeutigkeit der eigenen Position ist es, die das Programm so  faszinierend und streitbar macht. Bequem ist das - bei aller  Unwiderstehlichkeit – tatsächlich nicht.
Putting contradiction on an obvious level
Vielleicht  ist es also viel weniger Océans Uneindeutigkeit in Bezug auf ein  Geschlecht, die hier so manche_n aus der Komfortzone bringt. Obwohl  diesbezügliche Reaktionen nicht selten weit über Fragen nach Herkunft  und Geschlecht hinausgehen: “I’ve been exposed to violence already. I’m  doing martial arts, so it’s quite ok. I am able to defend myself. But  it can be very dangerous. You are actually putting contradiction on an  obvious level. And many people cannot deal with that. I mean there are  people who don’t have any theoretical or queer background and any sort  of openness or intelligence or curiosity. That’s what’s dangerous: you  provoke fear.” Aber nicht nur „die Anderen“ sind es, die dadurch  verunsichert werden, dass sich Océan konsequent allen Zuordnungen  entzieht. Auch einem queeren Publikum ist es nicht immer möglich, die  Frage nach der geschlechtlichen Identität unbeantwortet zu lassen. So  meinte L-Mag als Antwort auf einen verunsicherten Leser_innenbrief  versichern zu müssen, dass an Océans Integrität nicht zu zweifeln sei,  selbst wenn auf dem Foto ein Mann* abgebildet sei. Und auf  Drag-Festivals werden Menschen schon mal körperlich zudringlich bis  aggressiv, um herauszufinden, was denn jetzt „wirklich“ unter der  Kleidung steckt. Auch, oder vielleicht gerade in einer queeren Szene  werden eindeutige Zuordnungen immer wieder gefordert – und sei es nur in  einem eindeutigen Bekenntnis zur Uneindeutigkeit. Da werden dann so  komische Forderungen laut, wie die, doch bitte wenigstens in der  Inkonsistenz konsistent zu sein. Es könne doch nicht sein, dass jemand  gleichzeitig nachts uneindeutig ist und tagsüber eindeutig. Denn im  Geschäftsleben ist Océan eine erfolgreiche Unternehmensberaterin. Ganz  ohne Unterstrich und Stern. “I am especially between two countries,  between three countries you could say. Between languages. Between  genders. But between social lives, too. In my business life it’s quite  design and all these glamorous things. But things, which are mainstream.  Even if I don’t consult mainstream companies. But still, it is like a  glamorous, exposed, definitely not underground kind of thing. And in my  nightlife it’s more underground. And there is a contradiction between  that, too.
”

Queer und Mainstream zugleich?
Da regt sich bei einigen der Verdacht des Doppellebens. Gerade die letzte Unterscheidung ist eine, die vermeintlich zwingend getroffen werden muss, die von einem „alternativen” Publikum gefordert wird: „Mainstream, glamorous business life“ tagsüber – das passt so überhaupt nicht mit einer antihegemonialen, queeren Position nachts zusammen. Und was das „Richtige“ ist, ist in dieser Frage doch eigentlich schon vorentschieden – oder nicht? Hier wird es plötzlich so richtig unbequem und wir befinden uns in gefährlicher Nähe zu einer sehr religiösen Idee: der des ganzen Menschen. So ganz können wir offenbar doch nicht davon lassen, irgendwo muss er doch existieren können, wenn wir schon durch die ganzen alltäglichen Rollen in immer kleinere Korsette gezwungen werden, die uns immer schon vorgeben, wer wir sind und wer wir sein können. Und ist „queer“ als politische Bewegung und als wissenschaftliche Theorierichtung nicht gerade dazu angetreten, diese Korsette zu sprengen und um ihre Künstlichkeit, die uns immer als (Quasi-)Natürlichkeit verkauft wird, zu entlarven? Muss sich das dann nicht auch in der Performance einer Person wie Océan widerspiegeln? Und vor allem auch im Leben dieser Person? Wie kann das angehen, dass da auf der Bühne Rollen (vermeintlich) nicht entlarvt werden? Wie kann es angehen, dass es da jemand wagt, sich als queer zu bezeichnen, der_die aussieht und sich verhält wie ein „echter“ Mann/eine „echte“ Frau? Und nicht nur das – was ist davon zu halten, wenn eben jene Person sich nicht nur auf der Bühne nicht zu einer eindeutigen Position bekennt, sondern dies auch insgesamt nicht macht? Zumindest die Entscheidung zwischen Kunst und Kommerz, zwischen Underground und Mainstream und zwischen Prekariat und Kapital müsste, so scheint es, doch wenigstens getroffen werden.
I´m a traveller. For sure!
Mir scheint, dass es genau das Fehlen dieser Entscheidung, also dieser Widerspruch ist, in dem auch mein Unbehagen begründet ist. Gerade weil er zunächst nicht offen da liegt. Und, weil es dabei um etwas geht, das auch in der eigenen, queeren Position nur selten bis überhaupt nicht in Frage gestellt wird. Hier vertreibt Océan wohl auch noch die letzten aus der Bequemlichkeitszone: Plötzlich trauen wir unseren eigenen Wahrnehmungen, unseren eigenen Überzeugungen nicht mehr. Deren Fragilität und deren Konstruiertheit werden nämlich ebenso sichtbar wie die Tatsache, dass wir uns auch mit „queer“ auf eine gar nicht so uneindeutige moralische Position stellen. Und dass wir bei aller Popularität von Konstruktions- und Relativitätsthesen mal eben beiseite lassen, dass auch die eigene Position eine ist, die in Frage gestellt werden kann und deren „Richtigkeit“ keinesfalls gegeben ist. Diese Widersprüchlichkeiten sind es, die vielleicht den eigentlichen Kern ausmachen: Da liegt dann die ganze Widersprüchlichkeit der eigenen, ach so politisch korrekten Position auf dem Tisch und kann auch nicht mehr weggeredet werden. Da wird dann deutlich, dass die vermeintliche Befreiung durch die Einsicht in die Konstruktion von Geschlecht, Körpern, Sexualität etc. auch ganz schnell zurückschlagen kann. Dann nämlich, wenn eben diese Konstruktion zur Forderung gemacht wird und ein Verbleiben im Dazwischen umso mehr irritiert. Ausgerechnet Niklas Luhmann, Systemtheoretiker und nicht gerade bekannt für eine ausgeprägte kritische oder gar rebellische Ader, kommt mir dabei immer wieder in den Sinn, wenn er meint, dass das Kunstsystem „Gesellschaft als exemplarischen Fall“ an sich selbst vollzieht und an sich
selbst zeigt, dass „Zukunft durch die Vergangenheit nicht mehr garantiert ist, sondern unvorhersehbar geworden ist“ 1. Die herausragende Leistung des Kunstsystems liegt dabei gerade darin, nicht nur auf einer Ebene Beobachtung erster Ordnung zu verharren und damit selbst nur zu unterscheiden; sondern einen Schritt weiter zu gehen und die eigenen Beobachtungen und die Beobachtungen und Unterscheidungen, die in der Gesellschaft getroffen und gemacht werden, in die eigenen Operationen einzubauen. Kunst rechnet so immer schon damit, dass sie selbst zum Gegenstand der Beobachtungen anderer wird und baut diese Selbstreflexivität bzw. Selbstverunsicherung in ihr System ein. Die eigene Perspektive wird damit radikal relativiert. Muss also überhaupt von Seiten des_der Künstler_in (etwas) entschieden werden? Wird Kunst durch ein politisches Bekenntnis zur Kunst? Oder ist Kunst nicht vielmehr das, was auch Océan bereits früh im Gespräch gesagt hat: Es geht nicht darum, eine neue Welt zu erfinden. Sondern darum, Menschen zu zeigen, wie sie die Welt sehen und wie sie sie machen. Mit all ihren Widersprüchlichkeiten. Die Performance Océans schließt genau an diese Gedanken an und möchte eine Einladung sein, nachzudenken, zu diskutieren, sich selbst und andere herauszufordern. Dabei die eine oder andere Grenze zu überschreiten. Gerade dann, wenn nicht mehr klar ist, ob diese Grenzen selbst- oder fremdbestimmt sind. Auch, wenn die eigene Position unbestimmt bleibt – und das ist dann doch politisch, sehr sogar. “Well I think art is political. If we define art as being something, like you want to make something visible, expose it and show your perspective to the world, it is political. It must be political. Otherwise it’s decoration. I don’t want to be a decoration.” Am Ende bleibt das Unbehagen. So recht finde ich nicht mehr zurück. Und gerade deswegen kann ich nur allen empfehlen, sich eine Performance von Océan und/oder die Dokumentation „Risk, Stretch or Die“ (Saskia Heyden, 2008) anzusehen. Was bleibt ist nämlich nicht nur ein Unbehagen, sondern auch ein Staunen. Weshalb ich am Ende nochmals Niklas Luhmann zitieren möchte, der sich einmal – bei jemand anderem, aber aufgrund einer ähnlichen Irritation bzw. Inspiration – mit folgenden Worten bedankt hat, denen ich mich uneingeschränkt anschließen möchte: „Ich danke (...) für ein längeres Gespräch, das (...) mir verdeutlicht hat, daß erst die Dissidenz im Verhältnis zu Dissidenten ein Staunen wieder möglich macht, ein Staunen über die Realität, wie sie sich alltäglich zeigt, ein Staunen ohne Vorentscheidung über Bejahung und Verneinung.“
Text: Katrin Triebswetter
Bild: Carolina Frank, Rania Moslam
Referenzen:
(1) Luhmann, Niklas (1995): Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.499
(2) Luhmann, Niklas (1992): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 4. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.98